Verabschieden Sie sich bitte von diesem Klischee. Ob Kardiologe, Deutschlehrer oder Hartz IV-Empfänger, ob kinderlose Paare oder Großfamilie: Häusliche Gewalt ist ein klassenloses Problem.
So verschieden die Situationen sind, es gibt einen roten Faden in allen (traurigen) Schicksalen: Je länger eine gewaltvolle Beziehung andauert, umso schwerer wird es, sich daraus zu lösen. Für Täter und Opfer. Wobei diese Rollen nicht so klar zu besetzen sind, wie es manchmal den Anschein hat. Um das Problem erfassen zu können, ist es wichtig, vom pauschalen »wer die blauen Flecke hat, ist das Opfer« zu einer differenzierten Betrachtungsweise zu gelangen.
Wie entstehen Gewalt-Beziehungen?
Wer schon einmal die Zeitlupen-Darstellung eines Gewitters gesehen hat, der weiß: Ein Blitz schlägt nicht willkürlich ein. Es ist umgekehrt! Ihm wächst vom vermeintlichen Einschlagspunkt ein zweiter, kaum sichtbarer Funke entgegen, verbindet sich mit dem eigentlichen Blitz, fängt ihn ein und zieht ihn an. Was das mit häuslicher Gewalt zu tun hat?
Es ist das selbe Prinzip. Nicht der Zufall oder gar Liebe, sondern ein »emotionaler Magnetismus« bringt zwei Menschen dazu, eine gewalttätige, destruktive Beziehung einzugehen und so schnell nicht wieder zu beenden. Weil sie paradoxerweise genau das beinhaltet, nach dem beide gesucht haben. Natürlich nicht bewusst.
Eine solche Paarbeziehung beginnt, bevor sich beide Beteiligten überhaupt kennenlernen. Zu dieser Schlussfolgerung kam die renommierte Autorin Alice Miller, die ihre eigene Missbrauchsgeschichte zum Anlass nahm, das Thema Gewalt in Beziehungen und Familien zu erforschen. Sie vermutete, dass Frauen und Männer, die sich von ihrem Partner verletzen lassen, ein kindliches Rollenmuster re-inszenieren. Männer, denen in der Kindheit eingetrichtert wurde, dass andere Menschen keinerlei Respekt verdienen, fühlen sich zu Frauen hingezogen, die als Mädchen lernen mussten, dass sie nichts wert sind.
Gewalt, was heißt das eigentlich?
Misshandlungen in einer Ehe oder Partnerschaft werden meist auf Ohrfeigen, Tritte, Schläge oder sexuelle Nötigung reduziert. Doch auch emotionale bzw. verbale Gewalt in der Ehe kann ein extremes Erniedrigungsgefühl auslösen! Wunde Punkte ansprechen, gezielt Unsicherheiten und Schwächen thematisieren, scheinbar harmlose, spöttische Anspielungen vor Zeugen, die aber die dahinterstehende Absicht nicht erkennen können ... Wer seinen Ehe-Partner demütigen will, findet Wege und Möglichkeiten.
Der norwegische Friedensforscher Johan Haltung unterscheidet zwischen personaler und struktureller Gewalt. Personale Gewalt bezeichnet alle direkten Angriffe einer Person. Als strukturelle Gewalt wird die indirekte Gewalt bezeichnet, die eine Gewaltbeziehung von außen stabilisiert. Zum Beispiel soziale Unterschiede, berufliche Hierarchien oder finanzielle Anhängigkeitsverhältnisse. Die Wurzel struktureller Gewalt ist nicht eine einzelne Person, sondern eine bestimmte familiäre, gesellschaftliche oder soziale Struktur, in der das Opfer sich befindet.
Besonders gefährlich sind gewalttätige Paarstrukturen, wenn einer der Beteiligten an einer narzisstischen oder paranoiden Störung leidet und die Gewalt zum Krankheitsbild gehört. In diesen Fällen leidet das Opfer oft viele Jahre lang unerkannt, weil die Täter es schaffen, nach außen hin den unauffälligen Schein zu wahren. Wendet sich das Opfer dennoch an eine Vertrauensperson, muss es damit rechnen, als Lügner abgestempelt zu werden. Warum? Weil es zu unglaublich klingt, was es beschreibt. Die psychischen Misshandlungen durch Soziopathen überschreiten in puncto Grausamkeit gewöhnliche Ohrfeigen und Schläge um ein Vielfaches und perforieren das Selbstwertgefühl des Partners.
Allerdings gilt auch hier: Es handelt sich nicht um eine lupenreine Täter-Opfer-Beziehung, sondern um einen grotesken Tanz zweier Menschen, die sich gegenseitig etwas geben, was sie zu brauchen scheinen – sonst würde einer von beiden die Situation verlassen. Einen Lichtblick gibt es. Die Opfer narzisstischer Gewalttäter erleben nach ihrem Befreiungsschlag fast immer einen Quantensprung in ihrer persönlichen Entwicklung und erkennen, weshalb sie ausgerechnet an diesen Menschen geraten sind.
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